Die Geschichte vom
dunklen Bäumchen
- von Rajeshwari
Vor langer Zeit...
Vor langer Zeit schlug ein junges Samenkorn in einem wunderschönen Waldboden, seine Wurzeln aus. Geküsst von Sonne und gestreichelt von Erde und Wasser, wuchs dieses Samenkorn allmählich zu einem kleinen Bäumchen heran. Und wie es so aus der Erde herauswuchs und sich umsah, konnte es erkennen, dass noch viele weitere Bäumchen, junge und alte, um ihn herum waren. „Was für eine schöne Umgebung“, dachte sich das Bäumchen. Mit der Zeit beobachtete es jedoch, dass es irgendwie anders war. Kaum einer sprach mit ihm, alle anderen Bäumchen lachten und wedelten sich fröhlich mit ihren Ästen zu und kitzelten sich gegenseitig an ihren Baumkronen. Sie sind mit der Zeit viel höher als es gewachsen und leuchteten geradezu im Sonnenlicht. Liefen Mensch und Tier an ihnen vorbei, strahlten ihre Gesichter, sie saßen gerne bei ihnen für ein schönes Picknick. Vögelchen, Eichhörnchen und weitere Tiere suchten sich in ihnen einen Ort für ihre Nester. Das Bäumchen lauschte den Menschen und Tieren, denn es wollte verstehen, warum niemand bei ihm sein möchte und es hörte immer wieder „nein geh da weg, an diesem dunklen Ding will doch keiner sitzen“. Und das Bäumchen wurde traurig.
Eines Tages gesellte sich eine Eule zum dunklen Bäumchen. Sie war schneeweiß, hatte einen lustigen Schnabel und die treusten Augen. „Hey du, hast du dich verflogen?, fragte es die Eule (Eula). „Wie kommst du denn darauf?“, antwortete sie. „Nun ja, zu mir ist noch nie jemand gekommen, zumindest nicht mit Absicht“. Die Eule schaute etwas verdutzt, und schwieg. „Hey, du, ich habe dich etwas gefragt!“ … Sie schwieg weiter. Das dunkle Bäumchen konnte diese Stille fast nicht aushalten, jedoch gefiehl im das Gefühl, jemanden auf seinen Ästen zu spüren und in Gesellschaft zu sein. Und so schwiegen sie gemeinsam.
Das dunkle Bäumchen wuchs an einem Stück im Wald, an dem es in der Nacht stockfinster wurde und auch am Tag war es dort eher düster. Seine Rinde war tatsächlich von Natur aus sehr dunkel und grob und, wo die anderen Bäume immer höher und höher wuchsen, verwuchs es sich in die Breite. Seine Äste wurden von Jahr zu Jahr stärker, doch Blätter bekam es kaum. Die schneeweise Eule blieb ihm eine treue Begleiterin. Tag für Tag erzählte sie die neuesten Geschichten der Menschen, Tiere und was ihr sonst so am Tag begegnet ist.
Eines Abends, die Sonne war gerade unter gegangen, hörten sie aus der Ferne ein Wimmern. Es war ein kleines Mädchen, das sich verlaufen hatte. Die schneeweise Eule, saß wie jeden Abend auf ihrem Lieblingsast des dunkeln Bäumchens und da heute schon Vollmondabend war, leuchtete sie geradezu. Das kleine Mädchen erschrak sich zuerst, als sie sie durch ihre tränengefüllten Augen sah, doch die Eule flog schon gleich zu ihr herab, um sie zu trösten. Sie ließen sich am Fuße des dunklen Bäumchens nieder. Das kleine Mädchen weinte bitterlich, es war ganz allein im Wald, hatte sich verlaufen, als sie vom Pilze sammeln wieder zurück zu ihrem Haus wollte. Es wollte nichts sehnlicher als wieder zurück zu ihrer Familie. Vor lauter Aufregung wurde die Kleine ganz erschöpft. Die Eule brachte ihr Beeren und etwas Wasser und das kleine Mädchen kuschelte sich an die Wurzeln des dunklen Bäumchens, um sich von der Aufregung etwas auszuruhen. Tränen kullerten ihre Wangen herunter und tropften auf seine Wurzeln. „Ich wünsche mir so sehr, wieder bei meiner Familie zu sein…“ Sie schlief ein…
Plötzlich merkte das dunkle Bäumchen, wie es ein Kribbeln durchzog. Es wanderte den Stamm hinauf, in einen seiner Äste und wie durch ein Wunder wuchs aus ihm ein goldenes Blatt. Das allererste goldene Blatt im Leben des dunklen Bäumchens, es war ein unglaubliches Gefühl. Doch, was hat das alles zu bedeuten?!
Die Eule hatte von alldem gar nichts mitbekommen, denn sie war gerade noch auf Beutefang zum Abendessen. Sie erstarrte fast vor Schreck, als sie das goldene Blatt sah. „Es ist also wahr!“ sprach sie mit offen stehendem Schnabel und weit aufgerissenen Augen, fasziniert davon was sie sah. „Wahr, was ist wahr? Was meinst du Eula, los, erzähl' schon, was ist los?“ „Nun ja, vor vielen Leben, stand ein paar Wurzeln von hier entfernt ein großer, steinalter Baum. Sie war der schönste Baum den man zu dieser Zeit je gesehen hatte. Die Menschen wussten um ihr Heilwissen und suchten sie auf, wann immer sie traurig waren oder ihnen etwas schwer auf dem Herzen lastete. Liefen ihre Tränen auf ihre Wurzeln und erkannte der steinalte Baum die Reinheit des Herzens dieser Menschen, wuchs in der darauf folgenden Vollmondnacht ein goldenes Blatt. Fiel dieses Blatt herab, erfüllte sich der Wunsch. Der Wind war ein treuer Begleiter des alten Baumes und so trug er das Blatt stets zu diesen Menschen, als Zeichen der Hoffnung. So wussten sie, dass bald alles wieder gut werden würde. Dieser Baum, war deine Mutter und du bist ihr Nachfolger. Du mein liebes dunkles Bäumchen bist dafür da, den Menschen Hoffnung und Heilung zu schenken.“ „Doch Eula, wo ist meine Mutter heute?“, fragte das Bäumchen, leicht verwirrt. „Der Wind erzählte mir, dass es damals ein großes Feuer gab und viele Bäume, Tiere und Menschen ihr Leben verloren. So auch deine Mutter.“ Das Bäumchen wurde still, ganz still. Und plötzlich schien alles einen Sinn zu ergeben. Durch seine Einsamkeit begann es sich irgendwann selbst Geschichten zu erzählen und nun erkannte es, dass dies alles Geschichten waren, aus dieser Zeit, Geschichten seiner Mutter. Die Erde in der es wuchs, war die Erde, in der auch seine Mutter über viele hundert Jahre ihre Wurzeln vergrub. „Und jetzt verstehe auch ich es“, sagte Eula. „Der Wind hat mich zu dir geschickt und sagte mir, dass ich eines Tages schon verstehen würde, wozu. Ich bin bei dir, da ich die neue Botin der goldenen Blätter bin. Ich helfe dir, die Hoffnung unter die Menschen zu bringen. Dieses goldene Blatt, wird uns den Weg nach Hause zur Familie des kleinen Mädchens zeigen, ganz von allein.“ Und so geschah es.
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